Kurzgeschichte: Die Freuden des Winters
Eine meiner ersten Kurzgeschichten und gleichzeitig eine wahre Begebenheit – viel Spaß beim Lesen!
(Selbstverständlich unterliegt dieser Text meinem Copyright und darf nicht ohne meine Genehmigung kopiert, weitergeleitet oder anderswie bearbeitet werden)
Die Freuden des Winters
oder: Das verpasste Meeting
Es gibt Tage, an denen wünscht man sich, man wäre nicht aufgestanden.
Marions Wecker klingelte um fünf Uhr zu nachtschlafender Zeit. Noch benebelt von dem seltsamen Traum, in dem sie gerade gefangen war, suchte sie mit der Hand tastend nach dem Wecker und stellte ihn aus. Sie musste heute rechtzeitig aufstehen, denn um viertel nach sechs fuhr ihr Zug nach Hamburg los.
„Warum finden Meetings eigentlich nicht erst nachmittags um zwei statt?“ murrte sie, schlug die Decke zurück und setzte die Füße auf den Boden. Sie rieb sich das Gesicht, streckte ihre Arme in die Höhe und stand auf. Erst gestern hatte sie Bescheid bekommen, dass sie nach Hamburg fahren sollte, was ihren ganzen geplanten Tagesablauf durcheinander gebracht hatte. Marion putzte sich die Zähne, schminkte sich und band ihre Haare zu einem Dutt hoch. Dann zog sie den bereits am Vortag herausgelegten Hosenanzug an und die schwarzen Pumps. Es war bereits halb sechs und Marion sah aus dem Fenster. Schnee.
„Mist.“, murmelte sie und zog ihren Mantel an. In dieser Woche hatte es zu schneien begonnen und seit Tagen waren die Straßen gefroren. Da sie mit dem Auto zum Bahnhof fahren wollte, ging sie um viertel vor sechs aus dem Haus, schloss ab und rutschte zu ihrem Wagen, einem alten VW, der seine besten Jahre bald hinter sich gebracht haben würde. Marion drückte auf den kleinen schwarzen Knopf an ihrem Schlüssel und das Auto entriegelte sich hörbar. Sie startete den Motor. Sobald die Scheiben warm waren, würde man das Eis besser entfernen können. Die Handtasche deponierte sie auf dem Beifahrersitz, dann griff sie nach dem Eiskratzer und seufzte. Wenn es einen Club der Eiskratzenhassenden gäbe, wäre sie die Vorsitzende, aber es half nichts. Marion stieg wieder aus, ließ geräuschvoll die Tür zufallen und begann, das Eis von der Frontscheibe zu kratzen, während der Motor langsam begann, sich aufzuwärmen.
KLICK.
Marion hielt inne. Was hatte dieses Klickgeräusch zu bedeuten? Es hatte genau wie das Geräusch geklungen, das das Auto machte, wenn man es aufschloss. Unsicher zog Marion am Hebel der Fahrertür. Es tat sich nichts. Sie zog kräftiger, aber die Tür blieb verschlossen. Irritiert starrte sie die Tür an und schüttelte den Kopf. Ein Auto schloss sich doch nicht selbst ab! Sie legte den Eiskratzer auf das Dach und versuchte mit roher Gewalt, die Tür zu öffnen – bestimmt war sie nur etwas eingefroren.
Alle Mühen halfen nichts: Die Autotür blieb verschlossen, der Motor lief und die Handtasche lag auf dem Beifahrersitz.
„Scheiße.“, stöhnte Marion und sah auf die Uhr: Fünf vor sechs, in fünf Minuten musste sie losfahren. Schnell überlegte sie, wie sie die Situation retten konnte: Der Ersatzschlüssel für den Wagen lag im Handschuhfach, wofür Marion sich in diesem Moment hätte ohrfeigen können. Sie konnte nun auch nicht ins Haus, da der Haustürschlüssel in der Handtasche war und es war zu früh, um bei ihrer Freundin, die ein paar Straßen weiter wohnte, zu klingeln, um sie um den Ersatzschlüssel für das Haus zu bitten. Glücklicherweise hatte Marion ihr Handy immer in der Jackentasche und so rief sie die Werkstatt an, bei der ihr Auto regelmäßig gewartet wurde.
Niemand nahm ab.
Marion unterdrückte einen Wutschrei und tigerte um das Auto in der Hoffnung, es würde sich von selbst wieder aufschließen. In einiger Entfernung schlug ein Turm sechs Uhr. Den Zug würde sie nun nicht mehr rechtzeitig erreichen.
„Scheiße, scheiße, scheiße.“, murmelte sie vor sich hin, versuchte noch zwei Mal, die Wagentür ohne Erfolg zu öffnen und sah dann auf die Uhr. In diesem Moment fuhr der Zug los.
Sie versuchte erneut, die Werkstatt zu erreichen und tatsächlich nahm nach dem siebenundzwanzigsten Klingeln jemand ab. Schnell erklärte Marion die Situation, aber der Werkstattleiter antwortete nur gähnend, dass die Werkstatt um acht Uhr öffne und er vorher leider nichts für sie tun könnte.
Marion raste vor Wut und legte auf, bevor sie unfreundlich werden konnte. Glücklicherweise war die Nummer vom ADAC eingespeichert, den sie sodann anrief. Dort nahm eine Frauenstimme den Hörer ab.
„Mein Auto steht abgeschlossenen mit laufendem Motor auf der Auffahrt und der Schlüssel steckt.“, erklärte Marion, deren Finger schon leicht bläulich wurden. Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper.
„Unser Pannendienst braucht etwa eine Stunde, schneller schaffen wir es nicht.“, gestand die Dame am anderen Ende und Marion resignierte. Sie stimmte zu, auf den Pannenhelfer zu warten und legte auf. Am Meeting würde sie heute nicht teilnehmen können.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es fast halb sieben war und Marion fand, dass das die ideale Zeit war, um ihre Freundin zu wecken. Darauf Acht gebend, nicht auszurutschen, bahnte sie sich ihren Weg durch die gefrorenen Straßen und klingelte ihre Freundin Eva wach. Bibbernd vor Kälte erklärte Marion ihr, was passiert war und Eva holte sofort den Ersatzschlüssel für das Haus. Sie bot Marion eine Tasse Kaffee an, die sie aber ablehnte. Kaffee konnte sie auch zu Hause trinken und Eva konnte sich wieder schlafen legen. Sie verabschiedeten sich und Marion wankte zurück zu ihrem Haus. Das alles hatte bereits eine halbe Stunde gedauert und langsam konnte man in der Ferne sie erste Morgenröte erkennen. Marions Hände waren so kalt, dass sie kaum den Schlüssel im Schloss der Haustür umdrehen konnte. Sie versuchte, ihre Hände mit ihrem warmen Atem aufzutauen und gelangte schließlich endlich in das Haus. Der Motor ihres VWs tuckerte derweil konstant weiter vor sich hin.
Die Kaffeemaschine war gerade warmgelaufen, als der Pannenhelfer klingelte. Marion hatte über ihre Hände lauwarmes Wasser laufen lassen, dass sich kochend heiß anfühlte, aber langsam strömte das Leben in sie zurück. Sie öffnete dem Pannenhelfer die Tür, der sie freundlich begrüßte. Zusammen schlitterten sie zu dem Wagen und es dauerte genau zwei Sekunden, bis der Pannenhelfer den Wagen geöffnet hatte. Dazu fiel Marion nichts weiter ein als ein schlichtes „Danke.“
„Sie haben es aber ganz schön warm da drinnen.“, meinte der Pannenhelfer und zeigte mit dem Daumen auf das Auto, aber Marion war zu kaputt, um darauf zu antworten. Sie verabschiedete den Helfer, nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und stellte den Motor ab. Endlich war es still. Die Uhr zeigte sieben an. Da sie nun das Meeting ohnehin verpassen würde, ging Marion zurück in das Haus, setzte sich auf die Couch und trank in aller Ruhe zwei Tassen Kaffee, während sie versuchte, das gerade Erlebte zu verarbeiten. Um acht Uhr brach sie zur Arbeit auf, auf der man sie überrascht begrüßte.
Noch Tage später musste sie ihren Kollegen die Geschichte erzählen und ihre Finger zeigen, an denen die anhaltende Kälte deutliche schwarze Spuren hinterlassen hatte. Warum sich das Auto selbst abgeschlossen hatte, konnte nur mit einem technischen Defekt erklärt werden, aber seit diesem Tag hält sich Marion immer an drei grundlegende Devisen:
1) Nie ohne Handschuhe das Haus verlassen, wenn es kalt ist
2) Den Ersatzschlüssel für das Auto im Haus deponieren
3) Den Motor beim Eiskratzen nicht einschalten.
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